Brasilien und der Glaube

Wenn man sich in Deutschland in eine Frühmesse begibt, möchte man (so muss ich es leider sogar als Mensch, der sich gerne mitten in dieser Gemeinschaft bewegt) oft am liebsten gleich wieder rückwärts raus, weil man den Verdacht hat, sich in ein Requiem verirrt zu haben.
30 Menschen in einer Kirche für 200 Leute, gut verteilt, alle im Alter zwischen 70 und 95, dazu Musik von 1695, wo von den armen Sündern im Jammertal gewinselt wird.

Expressionistisches Bild zum Thema Trauer und Tod
Manchmal ist Christ-Sein in Mitteleuropa schon eine ziemliche Spaß-Bremse

Die erste Regung: Das zücken des Geldbeutels bei der Gabenbereitung. Dabei hat man den Eindruck, dass man sich ernsthaft Sorgen macht, ob der Nachbar sehen wird, dass man vermeintlich zu viel oder zu wenig in das Opferkörberl geworfen hat.
Die zweite Regung: Der Friedensgruss, wo man – allzu übertriebenen Überschwang vermeidend- dem Nachbarn mit einem grimmigen Brummen kurz die Hand reicht und sich überlegt, ob man sich nach hinten auch umdrehen soll, oder ob dort eine Person sitzt, der man lieber nicht die Hand reicht.
Dritte Regung: Die Bewegung zur Kommunion, wo man sich überlegt, ob die Predigt nicht zu lang war, damit man den Schweinsbraten noch rechtzeitig ins Rohr bekommt.

Zum Glück ist das nicht die ganze Wahrheit – in Brasilien ist dies aber auf jeden Fall ganz anders.
Wenn um 10.00 Uhr die Kirche beginnt, so trudeln die Menschen zwischen 9.30 Uhr und 10.30 Uhr langsam ein, begrüßen sich mit einem “Tudo bem?” – “Tudo bom!” (“Und, ois klar?” – “Ja, passt scho!”) und feiern erst mal das Leben, bis der Pfarrer dann allmählich bemerkt wird.

Bild in der Kirche von Mãe Luiza / Natal
In Brasilien ist Gottesdienst Leben

Hier wird mit großen Lautsprechern gearbeitet, weil der Straßenlärm von der Hauptstraße sonst alles verschlucken würde; Natürlich gibt es auch hier keine Glasfenster.
Neben dem Straßenlärm ist auch der Ratsch-Geräuschpegel ziemlich hoch. (Bei der Wandlung flaut er etwas ab.) Zwischendurch rufen alte Frauen sich zu, wo noch ein Sitzplatz frei wäre, Kleinkinder erkunden das Terrain und ab und zu verirrt sich ein Betrunkener, der sich kurz vor dem Altar nieder wirft und dann wieder verschwindet.
Bei der Predigt versichert sich der Priester immer wieder, ob die Leute noch mitdenken. Das kann mal ein “Oder?” sein, das mit einem “Jawoi!” beantwortet wird, oder man meldet sich mal auf die Frage, wer diese Erfahrung auch schon gemacht hätte, oder auch dieser Meinung wäre.

Die Musik stammt mindestens aus dem 20. Jahrhundert oder jünger. Die Band singt zwar nicht immer ganz richtig, aber laut und begeistert. Die Fehler würden auch nicht auffallen, weil alle lauthals mitsingen und einige dabei die Oktaven rauf und runter schleifen, dass es eine wahre Freude ist.
Das Evangelium wird mit einem respektvollem Applaus abgeschlossen.

Das Happening bricht spätestens zum Friedensgruß los, wo man allen Bekannten und Nicht-Bekannten begeistert in die Arme fällt, um sich ein “Paisch Chrischte” zuzurufen.
Das Ganze ist wirklich Leben, und was sollte Glaube auch anderes sein?

Manchmal stutzen wir kühlen Mitteleuropäer auch. Wenn die Mitmachpredigt allzusehr an amerikanische Effekt-Prediger erinnert, wenn Heiligenfiguren mit blinkendem Heiligenschein den Kitschfaktor in Schreikrampfnähe bewegen und Lieder mit allzu extatischen Bewegungen untermalt werden.
Aber hier kann ich es mittragen, es gehört zur Kultur, es ist nicht gespielt oder in sofortiger Erleuchtungserwartung psychotisch übersteigert.
(Wenn man auch den Eindruck hat, dass es auch Priester gibt, die ganz bewusst übertreiben und vielleicht auch noch vereinzelt eine riesen Gaudi dabei haben, die Menschen nicht ernst zu nehmen. – Aber das ist sicher nicht die Regel und auch nicht in Mãe Luiza der Fall.)
Solche charismatischen Strömungen sind mir in Deutschland wesentlich mehr suspekt.

Ist Brasilien aber deshalb schon katholisch?
Auf dem Papier schon. Die katholische Kirche hat es hier aber gar nicht leicht gegen die vielen Befreiungs- und Pfingstkirchen anzukommen. Einige für uns übertriebene charismatische Praktiken sind auch eine Antwort auf die vielen charismatischen sektenartigen Gemeinschaften, die es hier gibt und die alle noch lauter in die Viertel hinausbrüllen.
Außerdem sind die Naturreligionen, die Afrikaner und Ureinwohner mitbrachten (bzw. hatten), hier noch recht präsent und ein großer Teil der Leute findet gar nichts dabei katholisch zu sein und gleichzeitig irgendwelche anderen Kulte mit der gleicher Überzeugung zu unterstützen.

Eines ist sicher:
Die katholische Kirche ist hier (und in vielen Entwicklungsländern) eine der wenigen Kräfte, die vor Ort wirklich konsequent an der Seite der Armen und Unterdrückten steht.
Und es gibt so viele großartige Priester, Ordensleute und Freiwillige, die teilweise sogar ihr Leben aufs Spiel setzen, um an der Seite der Armen zu stehen, und ihre Situation zu verbessern.

Vatikan und Weltkirche kämpfen diesen Kampf sicher nicht immer überzeugend und konsequent mit, einzelne Standpunkte sind auch kontraproduktiv, aber die Kirche stellt auf jeden Fall ein unverzichtbares Gegengewicht dar, gegen eine ungezügelte Weltwirtschaft, die die Armen dieser Welt konsequent verarscht und ausbeutet.

Es ist immer leicht mit vollem Bauch von Deutschland aus der Kirchenführung tausend Versäumnisse vorzuwerfen (keine Frage, dieser Versäumnisse gibt es genügend), um sich selbst nicht dem Gefühl aussetzen zu müssen, dass man vielleicht selbst das Evangelium nicht konsequent genug lebt.

Hier geht es um wahre Menschlichkeit, um Gerechtigkeit, um Frieden. Wenn es so wie hier auf Gewalt, Armut, Verzweiflung und Ausbeutung trifft werden einem die Abgründe, die in uns Menschen schlummern und die Widersprüchlichkeiten unseres Seins schmerzlich bewusst.

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